Heranziehung von VwGH-Erkenntnissen in der unternehmensrechtlichen Rechnungslegung

Der OGH zeigte anhand seines Urteils 6 Ob 72/20m vom 25.6.2020 auf, dass VwGH-Erkenntnisse für die Rechtsfindung in der Bilanzierung nach dem UGB durchaus relevant sein können, wenn es bezogen auf einen konkreten Sachverhalt keine Abweichung zwischen den unternehmensrechtlichen und steuerrechtlichen Bestimmungen gibt. Konkret wurde im Urteil über den Ansatz einer Prozesskostenrückstellung (Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten) entschieden, für welche es im Steuerrecht keine vom Unternehmensrecht abweichenden Vorschriften gibt. Hierbei wurde vom OGH für die Beurteilung der Bildung von Rückstellungen in der Unternehmensbilanz neben unternehmensrechtlicher Kommentarliteratur auch auf die Rechtsprechung des VwGH und Literatur zum Einkommenssteuerrecht verwiesen. 

In der Vergangenheit gab es allerdings ein anderslautendes Urteil des OGH 14 Os 143/09z-45, in welchem die Maßgeblichkeit von VwGH-Erkenntnissen für die Unternehmensbilanz grundsätzlich abgelehnt wurde; die jüngste Entscheidung ist daher insofern bemerkenswert. Generell finden sich im unternehmensrechtlichen Schrifttum oftmals Verweise auf verwaltungsgerichtliche Erkenntnisse und steuerrechtliche Kommentare, wenn das Unternehmens- und Steuerrecht die gleichen Vorschriften vorsehen. Dies hat unter anderem den Grund, dass sich der Großteil der Judikatur zu den Rechnungslegungsvorschriften des UGB aus VwGH-Erkenntnissen ableiten lässt. Die jüngste Entscheidung des OGH steht daher insofern im Einklang mit dieser in der unternehmensrechtlichen Literatur gängigen Praxis. 

Die Heranziehung von VwGH-Erkenntnissen für Zwecke der Auslegung von bilanzrechtlichen Fragestellungen ist auch im Hinblick auf die sog „Einheitsbilanz“, deren Zielsetzung eine Vereinheitlichung der Rechnungslegungsvorschriften des UGB und der Gewinnermittlungsvorschriften des Steuerrechts ist, schlüssig. 

Abzuwarten bleibt, ob der OGH auch bei künftigen, die unternehmensrechtliche Rechnungslegung betreffenden Urteilen die Rechtsprechung des VwGH berücksichtigt und dieser damit ein höheres Gewicht bei der Beurteilung bilanzrechtlicher Sachverhalte als bislang zuerkennt; im Extremfall könnte hierin ein Schritt zurück in Richtung der (eigentlich abgeschafften) „umgekehrten Maßgeblichkeit“ gesehen werden.

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